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Warum uns kollektives Spiri-Bashing keinen Millimeter weiter bringt…

Herzlich Willkommen zur Fortsetzung von Warum „Scheisst ihnen in die Klangschalen“ nicht unser Naziproblem lösen wird. Anlass für diese Fortsetzung ist das aktuelle taz-Interview mit Katharina Nocun und Pia Lamberty über Esoterik. Ich schätze die taz und ich schätze die beiden Bücher von Katharina Nocun und Pia Lamberty über Verschwörungsideologien. Daher folge ich auch beiden […]

Warum uns kollektives Spiri-Bashing keinen Millimeter weiter bringt...

Herzlich Willkommen zur Fortsetzung von Warum „Scheisst ihnen in die Klangschalen“ nicht unser Naziproblem lösen wird. Anlass für diese Fortsetzung ist das aktuelle taz-Interview mit Katharina Nocun und Pia Lamberty über Esoterik. Ich schätze die taz und ich schätze die beiden Bücher von Katharina Nocun und Pia Lamberty über Verschwörungsideologien. Daher folge ich auch beiden bei Twitter. Als ich vor einigen Monaten mitbekam, wie sie ihr neues Buchprojekt über radikale Esoterik anteaserten, befürchtete ich bereits Schlüsselloch Journalismus (dazu gleich mehr). Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Seit ich den taz Artikel gelesen habe, ist sie allerdings mausetot.

Gleich vorweg: Ich habe das dritte Buch noch nicht gelesen und ich bin mir nach dem taz Artikel auch nicht mehr sicher, ob ich das überhaupt noch tun soll. Daher bezieht sich meine Kritik in erster Linie auf den zitierten Artikel und nicht auf das Buch. Ich fürchte allerdings, sie ist übertragbar. Wenn zwei Menschen ein Buch über ein Thema schreiben, in dem sie selbst nicht wirklich tief drin sind, halte ich das per se schon mal für unglücklich. Denn egal, wie intensiv man sich in irgendein Thema von außen rein recherchiert – am Ende ist und bleibt es ein Blick durchs Schlüsselloch in eine Welt, die einem selbst fremd ist.

Was ist Schlüsselloch Journalismus?

Es gibt ja Menschen, denen die Spiri Welt nicht fremd ist. Ich zähle mich dazu. Und neben Organisationen wie Shantifa oder Yoga ist politisch stehe ich über Instagram mit vielen antifaschistischen Menschen im Austausch, denen diese Welt ebenfalls nicht fremd ist. Die Thematik ist also keineswegs so schwarz/weiß wie der taz Artikel sie darstellt. Wenn nun aber jemand noch keinerlei Bezug zur spirituellen Szene hat und gleichzeitig eine bestimmte Haltung, die es zu belegen gilt ( „alles Spinner“ oder „alles Faschos“), dann ist es ein Leichtes, Angebote zu finden, die genau diese Haltung untermauern. Wir kennen doch alle diese Artikel bereits aus vorpandemischen Zeiten, in denen Redakteurin X ein „total verrücktes“ Selbstexperiment wagt und eine crazy Spiri-Dienstleistung ausprobiert. Wenig überraschend kommt am Ende dann immer raus, dass die Spiris alle einen an der Waffel haben. Es gibt Yogaklassen, für deren Teilnahme ein tagesaktueller Schnelltest notwendig ist. Es gibt Veranstaltungen wie unser Sound Bath, die an eine Maskenpflicht gekoppelt sind. Es gibt diese Angebote. Aber man kann natürlich auch einen Gebärmutterreinigungskurs bei einer sibirischen Schamanin besuchen. Ich kann mir auf der Eso-Messe in Wilmersdorf von einem alten Herrn mit schütterem Haar, der in einem lila Samtzelt sitzt, Karten legen lassen. Ich kann mein Geld aber auch ebenso gut verbrennen. Ich meine: COME ON!? (Wenn die Wissenschaft ein solches Cherry Picking betreiben würde, um zu belegen, was belegt werden soll, wären wir am Arsch.)

Esoterik hat nichts mit Spiritualität zu tun

Der taz Artikel eskaliert bereits bei der Definition von Esoterik: Hexen, Edelsteine, Homöopathie, Karma. Wenn ich sowas lese, wird mir kotzübel und ich möchte allen Beteiligten ans Herz legen, nochmal „Inquisition Hexenverfolgung“ zu googeln. Aber dass bereits in diesem Absatz der Begriff „Karma“ gedropped wird, macht noch ein weiteres Fass auf. Denn da wissen zwei weiße, privilegierte Frauen in ihren Dreißigern es augenscheinlich so viel besser als 20% der Weltbevölkerung. Harte Kolonialismus-Vibes in 3,2,1…

Zurück zur Esoterik. Zitat Katharina Nocun: „Früher stand das Horoskop in der Bravo Girl, heute steht es bei Instagram. Ob es wirklich mehr wird, lässt sich nicht sagen. Aber klar ist, dass Esoteriker alle Kanäle nutzen.“ Nur falls ihr noch nicht wusstet, dass auch ich in die Esoterik-Schublade gehöre. Mir war das nämlich bis heute selbst nicht klar.

Die Statements sehr rationaler Menschen, die alles negieren, was sich zum aktuellen Zeitpunkt wissenschaftlich noch nicht belegen lässt, unterscheiden sich in der Regel nur unwesentlich von dem Hardcore Schwurbel sehr esoterischer Menschen, die alles wissenschaftliche negieren. Beide Enden der Skala tun so, als würden sie die ultimative Wahrheit kennen.

Spiritualität und wissenschaftliche Evidenz stehen in keinerlei Widerspruch zueinander

„Science is not only compatible with spirituality, it is a profound source of spirituality.“ Carl Sagan. Ich würde mir mehr Demut wünschen. Man kann auch demütig sein, sich selbst als den Wurm wahrnehmen, der wir innerhalb dieses Sonnensystems und dieser Galaxie nunmal sind, sich eingestehen, dass man nicht alles weiß, und dennoch Faschismus, Rassismus, Antisemitismus und alle anderen menschenverachtenden Ideologien messerscharf kritisieren und sich dagegen auflehnen. Spiritualität ist antifaschistisch. Außer, sie wird im Sinne des Faschismus benutzt. Wissenschaft ist antifaschistisch. Außer sie wird im Sinne des Faschismus benutzt.

Oder wie ich bereits Anfang des Jahres in dem eingangs verlinkten Artikel schrieb:

„Sucharit Bhakdi, lt. Wikipedia Professor für Medizinische Mikrobiologie, hat auf Telegram mehr als 40K Subscriber. Wolfgang Wodarg, lt. Wikipedia Internist, Sozial- und Umweltmediziner, hat auf Telegram mehr als 30K Subscriber. Bodo Schiffmann, lt. Wikipedia Facharzt für HNO, hat auf Telegram knapp 170K Subscriber. Das Ausmaß des Schadens, den allein diese drei “Akteure” seit Pandemie Beginn angerichtet haben, scheinen Mediziner*innen auf Twitter gerne mal auszublenden, wenn sie Richtung “Alternativmedizin” austeilen und sich an Globuli abarbeiten, anstatt sich mal in den eigenen Reihen umzuschauen. Wann immer ein neuer Fake Impfpass-Skandal durch die Medien wabert, handelt es sich für gewöhnlich ebenfalls um Arztpraxen und Apotheker*innen, die involviert sind. Und auch Fake Maskenatteste werden von schwurbelnden Mediziner*innen ausgestellt. […] Die Anfälligkeit für Fake News und das Gedankengut, das damit in den meisten Fällen einher geht, zieht sich also durch alle Schichten, sämtliche Berufsgruppen und die komplette Gesellschaft.“

Faschismus in der spirituellen Szene existiert und er gehört scharf kritisiert. Ein offener Diskurs ist unabdingbar! Aber vielleicht macht es Sinn, wenn dieser Diskurs von Menschen angestoßen wird, die selbst einen Zugang zu der Szene haben und nicht allwissend über den Dingen schweben.

Eine Himbeere ist Obst, aber Obst ist nicht automatisch eine Himbeere. Es gibt spirituelle Faschisten, aber nicht jeder Spiri ist ein Fascho.

Solange ich Woche für Woche ausverkaufte Sound Baths spiele, bei denen alle Beteiligten ganz selbstverständlich Masken tragen und bereitwillig ihren Impfnachweis scannen lassen, möchte ich diesen Blick durchs Schlüsselloch, den der taz-Artikel aufmacht, anzweifeln. Denn es scheint auch solidarische Menschen mit einer stabilen politischen Grundhaltung zu geben, die spirituelle Dienstleistungen buchen, Tarot Karten legen oder einen Rosenquarz auf dem Nachtschränkchen haben.

Wer hätte das gedacht…