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Warum wir uns alle dringend mit unserem Dissoziieren auseinander setzen sollten

Ein Hinweis vorab: Dieser Artikel beschäftigt sich ausdrücklich nicht (ich wiederhole: ausdrücklich nicht) mit dissoziativen Störungen. Hier wird sehr gut erklärt, dass es sich dabei um ein Spektrum handelt und dass es auch alltägliche Dissoziation gibt, die keineswegs pathologisch ist. Nichts liegt mir ferner, als Menschen mit dissoziativen Störungen zu diskreditieren oder ableistische Sprache zu […]

Warum wir uns alle dringend mit unserem Dissoziieren auseinander setzen sollten

Ein Hinweis vorab: Dieser Artikel beschäftigt sich ausdrücklich nicht (ich wiederhole: ausdrücklich nicht) mit dissoziativen Störungen. Hier wird sehr gut erklärt, dass es sich dabei um ein Spektrum handelt und dass es auch alltägliche Dissoziation gibt, die keineswegs pathologisch ist. Nichts liegt mir ferner, als Menschen mit dissoziativen Störungen zu diskreditieren oder ableistische Sprache zu benutzen. Darum ging es btw auch in meinem letzten Artikel

Liebe Leute, wenn ich mir anschaue, was ich vor meinem Abgang nach Griechenland eigentlich noch alles tun muss, dann macht es überhaupt keinen Sinn, mich jetzt hinzusetzen und diesen Text zu schreiben. Aber ich kann nicht anders. Gerade habe ich gesehen, wie in dem Bezirk, in dem ich lebe, Aktivist*innen der Letzten Generation mit Pfefferspray angegriffen wurden. Parallel dazu greift unsere nationale Desinformations-Strategie in Sachen Covid mittlerweile so erfolgreich, dass sie auch Menschen erreicht hat, die mir lieb und wichtig sind. Mein Nervensystem rebelliert, in meinen Resilienzspeichern herrscht gähnende Leere und das Leben auf diesem Planeten, in diesem Land und in dieser Stadt fühlt sich gerade an wie ein Dampfkochtopf, dessen Deckel in wenigen Minuten mit Wucht Richtung Decke fliegt. Druck also. Sehr viel Druck.

Unter Dissoziation oder dem Dissoziieren versteht man eine Abspaltung oder Trennung von Handeln und Erleben.

An dieser Stelle nochmal der Link zu diesem (wie ich finde sehr guten) Artikel. Dazu kommt es wohl sehr häufig nach einem „kritischen Ereignis“. Und davon gibt es im Jahr 2023 ja mehr als genug. Und weil gerade gefühlt alle dissoziieren, was das Zeug hält, schreibe ich diesen Text. Es ist mir wichtig, deutlich zu machen, dass wir alle dissoziieren. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs, in der wir alle unseren Arsch bewegen müssen. Veränderungen sind unabdingbar und das macht vielen Angst. Ich dissoziiere natürlich auch selbst.

Ich schaue beispielsweise Videos von Aljosha an, in denen er immer wieder darauf hinweist, wie wichtig Veganismus und Tierrechte sind und ich esse immer noch Käse. Warum? Ich dissoziiere, um nichts verändern zu müssen. Ich blende es aus, um weiter Käse zu essen. Schiebe es zur Seite. Spalte es ab. Obwohl ich ihm in allen Punkten zustimme.

Ich setze mich darüber hinaus natürlich auch mit den wissenschaftlichen Fakten der Klimakrise auseinander, kann die Verzweiflung der Letzten Generation zu 100% nachvollziehen und werde in wenigen Tagen in ein Flugzeug steigen. Warum? Weil ich dissoziiere. Ich bin mir dieses Schadens, den mein Flug anrichtet, vollkommen bewusst, aber ich bemerke, wie ich die Realität wegschieben muss, damit ich in dieses Flugzeug steigen kann.

Und das, was Aljosha in mir auslöst, wenn es um Käse geht und das, was die Letzte Generation in mir auslöst, wenn es ums Fliegen geht, das löse ich in anderen Menschen aus, wenn ich über Covid schreibe.

Wenn ich die Fakten aufzähle, wissenschaftliche Studien verlinke und darauf rumreite, dass dieses Scheiss Virus im Körper persistiert. Das hat zur Folge, dass mich Hass erreicht. Genauso wie auch Aljosha Hass erreicht. In beiden Fällen könnte man von Glück reden, dass es sich „nur“ um digitalen Hass handelt und dass wir nicht wie die Klima Aktivist*innen von der Straße geprügelt werden. (Wobei ich als Maskenträgerin schon auch analogen Hass erlebt habe, aber größtenteils spielt sich das bei mir persönlich dennoch digital ab.)

Wir dissoziieren also alle, um in dieser Zeit irgendwie zu überleben.

Und das zeigt sich größtenteils in Hass. Hass gegen jede einzelne Person, die sich erdreistet, darauf hinzuweisen, dass „weiter so“ keine Option ist. Sei es in Sachen Tierrechte, in Sachen Klimakrise oder auch in Sachen Public Health Krise. Unsere gesamte Pandemiepolitik basiert im Kern auf „Alles wie früher. Alles mild. Keine Verhaltensanpassungen notwendig.“ Und das ist, was die Menschen hören wollen. Egal, wie viele Fälle von Langzeitschäden man gegebenenfalls schon kennt. Dadurch, dass es Langzeitschäden sind, lassen sie sich super dissoziieren. „Diese Autoimmun-Erkrankung hat rein gar nichts mit meiner Covid Infektion zu tun, sie ist nämlich erst ein Jahr später aufgetreten.“ No shit, Sherlock.

Diesen Sommer ist eine Superzelle über Berlin gefegt und hat einen alten Baum in meiner Straße entwurzelt. Aber Manfred sagt auf Twitter, dass es das auch früher schon gab. Wir haben 2023 zwar alle Hitzerekorde geknackt, aber weil es in Deutschland auch immer mal wieder geregnet hat, fühlt Michael das einfach nicht. Früher war es schliesslich auch schon heiss. Und deshalb fühlt er sich im Recht, wenn er der Klimakativistin in den Bauch tritt, die auf der Straße vor seinem Auto sitzt.

Ein Robert Habeck, der sich in seinem Amt den Arsch aufreisst, wird ganz gezielt Kampagne für Kampagne niedergemacht, während Populisten gefeiert werden. „Weiter so“ statt „Packen wir es an“ wird belohnt. Wundert sich ernsthaft irgendjemand darüber, dass in einem solchen Klima voller Hass die AFD Woche für Woche neue Spitzenwerte in Umfrageergebnissen erreicht?

Aber was kann jede*r Einzelne tun?

Was wirkt deeskalierend? Was ist der richtige Umgang mit diesem wilden, gedeckelten Gefühlschaos in einer Zeit des Umbruchs? Die Resilienzspeicher immer wieder aufzufüllen scheint zwar nach wie vor ein smarter Move zu sein, aber nicht auszureichen.

Ich appelliere an alle, die diesen Text lesen, zu trainieren, Konfrontation auszuhalten. Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass wir alle dissoziieren. Mir schreiben immer wieder Menschen, dass sie meine Texte lesen und dass ich ja eigentlich auch Recht habe, aber dass sie trotzdem keine Maske mehr tragen. Das ist stark! Denn diese Menschen konfrontieren sich mit der Realität und gestehen sich ihr Dissoziieren ein. So wie ich, wenn ich Käse esse oder in ein Flugzeug steige. Das ist der erste Schritt. Sich mit dem eigenen Verhalten auseinander zu setzen, ohne sich selbst dafür zu verachten oder zu verurteilen. Wir leben nun mal in einem kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaftssystem. Wir wurden entsprechend sozialisiert.

Wenn es ein innereuropäisches Nachtzugnetz geben würde und ich von Berlin nach Athen fahren könnte, ohne mehrfach umzusteigen, mehrere Tage unterwegs zu sein und ein Vermögen dafür auszugeben, dann würde ich das tun. Also wähle ich die Partei, die sich für den Ausbau innereuropäischer Nachtzugnetze einsetzt. Und suche nach Lösungen, bei denen ich zukünftig nicht mehr zweimal im Jahr in ein Flugzeug steigen muss. Und ich nutze immer häufiger den veganen „Greek White“ für meinen griechischen Salat und ersetze auch sonst immer häufiger den Käse durch ein veganes Ersatzprodukt. Das Ziel ist nicht Perfektion. Kann es in einer so herausfordernden Zeit nicht sein. Aber vielleicht bewirken meine Texte ja, dass der eine oder die andere zumindest beim Arzt wieder eine Maske aufsetzt, um Vulnerable zu schützen.

Es ist unabdingbar, die Scheuklappen abzulegen.

Es macht keinen Sinn, mich zu hassen, nur weil ich auf Probleme in unserer Pandemiepolitik hinweise. Aljosha und ich könnten easy Hass-Pingpong spielen. Er könnte mich hassen, weil ich noch immer Käse esse und ich könnte ihn hassen, weil er scheinbar wieder so lebt, als gäbe es keine Pandemie. Aber das führt halt nirgendwo hin. Genauso wenig, wie es irgendwo hin führen wird, Klimaaktivist*innen von der Straße zu prügeln und einfach weg zu sperren.

Konfrontation statt Dissoziation

Wenn wir nicht wollen, dass wir 2025 von einer Koalition aus CDU und AFD regiert werden, dann sollten wir uns schleunigst vor Augen führen, dass wir mit dauerhaftem Dissoziieren alles nur noch schlimmer machen. Ich habe Freund*innen, von denen ich weiß, dass sie es richtig scheisse finden, dass ich noch Käse esse und fliege. Und gleichzeitig gibt es nahe Menschen in meinem Leben, die wissen, dass ich es scheisse finde, dass sie wieder so leben, als gäbe es keine Pandemie. Gegenseitiger Hass bringt uns aber keinen Millimeter weiter. Wir sind also alle aufgefordert, uns mit der Realität auseinander zu setzen und dann in Baby Steps unser Verhalten daran anzupassen. Ja, das ist bisweilen schmerzhaft. Aber ich vermute, es wird erst einen spürbaren Shift geben, wenn die Mehrheit der Menschen verstanden hat, dass unser Leben nie mehr so aussehen wird „wie früher“ – egal, wie hart wir dissoziieren.


Edit (7 Stunden nach Veröffentlichung): Ich habe zum ersten Mal seit 2012 die Kommentarfunktion geschlossen. Warum? Hier ein Auszug:

Ich las deine Artikel sonst gerne, aber hier verrennst du dich in etwas, statt einzugestehen, dass der Begriff unglücklich gewählt ist – mir scheint, um deine Flugreise zu legitimieren. Die Argumentation “sollte klar sein, dass ich keinen Ableismus betreibe, denn ich hab ja einen Blogartikel dazu geschrieben” überdenk lieber noch mal, die ist so dürftig wie “ich kann gar keine Rassistin sein, weil ich ausländische Freunde hab”

Was mich an Reaktionen wie diesen wirklich abfucked: Da versuche ich zu erklären, dass es uns ALLE betrifft und bringe persönliche Beispiele ein. Wie damals beim Thema kulturelle Aneignung. Damit mache ich mich angreifbar, das ist mir bewusst. Mich aufgrund dessen auseinander zu nehmen oder verbal rund zu machen, führt aber höchstens dazu, dass andere das lesen und selbst verstummen. Aus Angst, sich falsch auszurücken. Anstatt mich von oben herab zu belehren und mir zu unterstellen, Menschen mit dissoziativen Störungen zu fronten, hätte man auch schreiben können: „Hey Jenny, bist Du sicher, dass man den Begriff auch im nicht pathologischen Kontext so nutzen kann? Ich dachte bisher immer, dass er explizit für dissoziative Störungen genutzt wird.“ Ich bin es leid, dass Menschen in meiner Kommentarfunktion ihren Frust abladen. Daher wird es diese Option nun nicht mehr geben.