Inklusion, Ableismus und das Patriarchat
Der heutige Artikel ist mir unglaublich wichtig und dennoch habe ich mich immer wieder ran gesetzt und wusste nie so richtig, wo ich anfangen soll. Es fängt schon bei der Überschrift „Inklusion, Ableismus und das Patriarchat“ an, denn bei diesem Thema fließen so viele Bereiche ineinander, dass ich theoretisch auch noch Eugenik, Nazis und den […]
Der heutige Artikel ist mir unglaublich wichtig und dennoch habe ich mich immer wieder ran gesetzt und wusste nie so richtig, wo ich anfangen soll. Es fängt schon bei der Überschrift „Inklusion, Ableismus und das Patriarchat“ an, denn bei diesem Thema fließen so viele Bereiche ineinander, dass ich theoretisch auch noch Eugenik, Nazis und den Kapitalismus in die Überschrift hätte aufnehmen müssen.
Das Thema ist wild. Und komplex. Und da ich selbst ein sowohl körperlich gesunder, als auch psychisch stabiler Mensch bin, bin ich mir nicht mal sicher, ob ich diesen Artikel als Nichtbetroffene überhaupt schreiben darf.
Edit: Es scheint klar zu gehen, mich erreichte aber der Hinweis einer Betroffenen, dass ich auch „noch nicht Behinderte“ schreiben könnte, da nur 3% aller Behinderungen angeboren sind. Das war mir selbst nicht klar, daher füge ich es hier nochmal ein!
Während die Welt da draußen sich nach wie vor am Gendersternchen abarbeitet, versuche ich mir seit 1-2 Jahren, ableistische Sprache abzugewöhnen. Das führt dazu, dass das Wort „krass“ mittlerweile zu den wohl meistbenutzten Wörtern in meinem Wortschatz gehört.
Einfach, weil ich „crazy“, „verrückt“ & Co. nicht mehr verwenden will. Bei „Bist Du behindert?“ sind wir uns im Jahr 2023 hoffentlich alle einig. Nein. Einfach nein. Bei sowas wie „Das ist ja vollkommen geisteskrank“ gehen die Meinungen aber vermutlich schon auseinander. Wer gendern kompliziert findet, hat sich zweifelsohne noch nie mit ableistischer Sprache auseinander gesetzt, denn die versteckt sich überall und es ist nicht crazy, sondern krass (check!), wie oft und wie selbstverständlich wir sie nutzen.
Aber was genau ist Ableismus?
Nähern wir uns diesem Thema doch einfach mal, indem wir uns anschauen, wie Diversity Arts Culture Berlin den Begriff definiert:
„Ableismus betont die Ungleichbehandlung, Grenzüberschreitungen und stereotypen Zuweisungen, die Menschen wegen ihrer Behinderung erfahren. Es gibt eine normative Vorstellung davon, was Menschen leisten oder können müssen. Wer von dieser Norm abweicht, wird als behindert gekennzeichnet und als minderwertig wahrgenommen. Die radikalste Form von Ableismus war die Euthanasie während des deutschen Nationalsozialismus, bei der Menschen mit Behinderung systematisch ermordet wurden.“
„Euthanasie“ und Eugenik in der deutschen Geschichte
Ich möchte an dieser Stelle außerdem die Website der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg zitieren:
„In der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Vorstellungen der „Eugenik“ und „Rassenhygiene“ verstärkt an den Universitäten institutionalisiert und gleichzeitig radikalisiert. Schon wenige Wochen nach der Machtübernahme wurden gesetzliche Maßnahmen ergriffen. Aus Sicht der Nationalsozialisten sollten diese die biologische und ökonomische Gefahr für die Volksgemeinschaft und Volksgesundheit eindämmen. Am 1. Januar 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Zwischen 300.000 und 400.000 Menschen wurden bis Kriegsende zwangsweise sterilisiert.
Hinzu kam eine zunehmende Kosten-Nutzen-Fokussierung, die die Kosten durch Pflege und Unterbringung für die Öffentlichkeit und die Arbeitsfähigkeit kranker und behinderter Menschen gegenüberstellte. Bei Kriegsbeginn wurde das „Euthanasie“-Programm im Sinne der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in die Tat umgesetzt. Der Krieg bot hierbei die Möglichkeit und ein Begründungszusammenhang für die Einsparung und Umstrukturierung von medizinischen und ökonomischen Ressourcen. Man geht heute von 150.000 Opfern der verschiedenen „Euthanasie“-Programme in Deutschland aus.“
Lasst gerne mal dieses Propaganda Plakat hier auf euch wirken, während wir uns nochmal eben in Erinnerung rufen, dass Höcke im Sommerinterview 2023 Inklusion als „Ideologieprojekt“ geframed hat.
Die Nazis haben also aussortiert. Welches Leben ist lebenswert und welches nicht? Und diese menschenverachtende Scheisse haben wir bis heute nicht aufgearbeitet. Nicht ohne Grund verfängt das Märchen der Immunschuld in deutschsprachigen Ländern ganz besonders erfolgreich.
„Du musst da durch. Jede Infektion macht Dich stärker und kräftiger.“
Hier wabert dann zweifelsohne auch die Anthroposophie mit rein. Die Pandemie hat unser Menschenbild hierzulande in aller Deutlichkeit sichtbar gemacht. Es ging nie darum, Vorerkrankte zu schützen oder Menschen ganz allgemein vor chronischer Erkrankung und Spätfolgen zu bewahren. „There’s no glory in prevention“, schon klar. Aber von der Regierungsseite aus wurde von Anfang an nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass es einzig und alleine darum geht, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten.
Dieses übergeordnete Ziel ist im Kern menschenverachtend und weist eine erstaunlich große Schnittmenge mit der Ideologie des oben verlinkten Propagandaplakates auf. Denn schwupps sind wir wieder bei „der ökonomischen Gefahr für die Volksgemeinschaft“.
Let that sink in.
Das ist krass. (Nicht crazy.) Ich habe in den vergangenen Jahren, aber ganz besonders im Frühling 2023, die Erfahrung gemacht, dass ich in Griechenland durch das Tragen einer Maske weder verachtet, noch aggressiv angepöbelt werde. Das machte mich ernsthaft nachdenklich und nachdem ich bei Twitter immer wieder las, dass das in Spanien, Portugal und in vielen anderen Ländern genauso läuft, wie ich es in Griechenland erlebt habe, bin ich sukzessive tiefer in das Thema eingetaucht.
Einen Scheiss haben wir aufgearbeitet…
Sich über den Höhenflug der AfD aufzuregen ist das eine, aber vielleicht sollten wir uns mal mit dem Mindset auseinander setzen, das nach wie vor weitläufig in den Köpfen der Menschen hierzulande verankert ist. Wie die Lemminge arbeiten wir weiterhin stur und fleißig unsere Immunschuld ab und sind kollektiv vollkommen fein damit, dass es hier und da wen Vulnerables erwischt. Das ist gesamtgesellschaftlicher Konsens. Sonst würden mehr Menschen weiterhin an den Orten Maske tragen, die vulnerable Menschen nicht vermeiden können (Gesundheitswesen, ÖPNV, Supermarkt). Es wird also aussortiert und es gibt einen Konsens. Und wer diesen Konsens proaktiv durch sichtbare Prävention stört, wird attackiert.
Der Wert eines Menschen in unserer Gesellschaft ist gekoppelt an dessen Leistungsfähigkeit.
An dieser Stelle betritt der Kapitalismus die Bühne. Du bist arm? Dann streng Dich gefälligst mehr an! Wer reich ist, hat sich den Reichtum verdient. Du bist krank? Schlepp‘ Dich gefälligst zur Arbeit und funktioniere! Kranksein ist was für Luschen! Sei verdammt nochmal ein funktionierendes Zahnrädchen in der „Ökonomie der Volksgemeinschaft“! Denn Dein Wert innerhalb dieser Gesellschaft ist gekoppelt an Deine Leistung. Die „Kosten-Nutzen-Fokussierung“ aus der Nazizeit ist auch 2023 noch omnipräsent.
Du bist psychisch erkrankt? LOL!
Im Januar diesen Jahres verkündet die Tagesschau, dass 65 Millionen Menschen an Long Covid leiden. Aus wissenschaftlicher Sicht sind die Zusammenhänge mittlerweile klar. Und trotzdem pathologisieren und verhöhnen wir in Deutschland Menschen mit Long Covid und labeln sie als „psychisch krank“. Das Medical Gaslighting ist allgegenwärtig. Und während Schulmediziner*innen weiterhin nach der Wurzel allen Übels in der „Esoterik“ suchen, vergessen sie gerne mal, dass niemand in ihrer Praxis oder Klinik mehr eine Maske trägt. Sie selbst eingeschlossen. Düdüm. Ganz eventuell ist das Problem also ein systemisches und wir dürfen uns damit auseinandersetzen, wie viel menschenverachtendes Nazi Gedankengut auch 2023 noch in unseren Köpfen wohnt. Denn es sind auch eben jene Mediziner*innen, die Long Covid Erkrankte Tag für Tag in Praxen und Kliniken gaslighten.
Dass die FDP die einzige Partei war, die das Abschaffen jeglicher Präventionsmaßnahmen öffentlichkeitswirksam gefeiert hat, und dass die FDP von allen drei Regierungsparteien die größte thematische Schnittmenge mit der AFD hat, ist kein Zufall. Neoliberalismus bedeutet am Ende eben nichts weiter als „Survival of the richest“ – Stichwort „Davos Standard“. Und für Nazis ist die Würde des Menschen ohnehin nicht unantastbar. Da kann unser Gesundheitsminister evidenzbasierte Fakten twittern, so lange er will. Wenn diese Fakten keinen Einfluss auf sein Amt haben, ist das alles doch nichts weiter als eine Farce.
Natascha Strobl schrieb kürzlich im Freitag den sehr lesenswerten Artikel „Der Hass auf alles Schwache“, in dem sie die Schnittstelle zwischen Marktradikalen und Rechten sehr eindrücklich skizziert: „Schwäche ist im Faschismus nichts Schützenswertes, sondern ein verachtenswerter Zustand. Schwäche ist dementsprechend immer etwas selbst Verursachtes oder genetisch Bedingtes. Das führt dazu, dass sie in dieser Ideologie klar bestimmten Gruppen zuzuordnen ist und so mitsamt diesen Gruppen ausgerottet werden kann. Diese Gruppen sind chronisch kranke Menschen, Menschen mit Behinderung oder ethnisch definierte Gruppen wie Juden und Jüdinnen […] oder Roma und Sinti. Einer rassistischen, antisemitischen, antiziganistischen, behindertenfeindlichen Vernichtungspolitik liegt also immer auch der Wunsch nach dem Ausmerzen der schwächsten Teile des „Volkes“ zu Grunde.“ Desweiteren schreibt sie: „Marktradikale Ideologen treibt vor allem die Verachtung von Armen an. Der Maßstab ist nicht (nur) das „Volk“, sondern „die Wirtschaft“. Gemeint ist damit immer ein kapitalistisches Wirtschaftssystem.“
Ist ja alles schön und gut, aber was hat das jetzt mit mir zu tun?
Ich möchte alle, die bis hierhin gelesen haben, einladen, das eigene Mindset mal auf problematische Programme zu überprüfen. Wer sich als ach so inklusives Yogastudio feiert und trotzdem keine Luftfilter aufstellt, ist nicht inklusiv. Wer denkt, dass es reicht, nicht AFD zu wählen, aber trotzdem ohne Maske zum Arzt geht, darf sich fragen, warum es ihr/ihm am Arsch vorbei geht, proaktiv Menschen zu gefährden, für deren Überleben Prävention unabdingbar wäre.
Ich habe kürzlich gelesen, dass die Zahl der Faschos stabil ist. Dass sie immer bei 30% lag, liegt und liegen wird. Dass sie in Zeiten wie diesen nur sichtbarer werden, weil sie aus ihren Löchern kriechen. (Ich kann die Quelle leider nicht mehr finden, weil Twitter langsam zerbröselt.) Auf jeden Fall ging es darum, dass es davon abhängt, wie die übrigen 70% damit umgehen. Ob sie wie in unserer jüngeren Vergangenheit bräsig und stumm bleiben oder ob sie laut werden. Daher möchte ich diesen Artikel mit einer letzten Frage schließen:
Was hält DICH davon ab, laut zu werden und Dich öffentlich dazu zu bekennen, zu den 70% zu gehören?
Die Antwort auf diese Frage hängt unmittelbar mit der Zukunft zusammen, die wir in diesen Jahren aktiv mitgestalten können. Auch wenn es sich manchmal nicht so anfühlt.