Kirche, Christianisierung und Spiritualität
Bevor ihr den heutigen Artikel lest, möchte ich euch bitten, einmal tief durchzuatmen. Ich habe das Thema vor einigen Tagen bereits in den sozialen Medien angekratzt und damit sehr emotionale Reaktionen ausgelöst. Ich will niemandem das Weihnachtsfest nehmen und ich will niemandem den eigenen Glauben absprechen. Bitte lest den letzten Satz in der türkisen Box […]
Bevor ihr den heutigen Artikel lest, möchte ich euch bitten, einmal tief durchzuatmen. Ich habe das Thema vor einigen Tagen bereits in den sozialen Medien angekratzt und damit sehr emotionale Reaktionen ausgelöst.
Ich will niemandem das Weihnachtsfest nehmen und ich will niemandem den eigenen Glauben absprechen.
Bitte lest den letzten Satz in der türkisen Box nochmal. Atmet ein und atmet aus.
Dieser Artikel behandelt das Christentum, weil ich selbst in diese Religion hineingeboren wurde und eigene Erfahrungen damit gemacht habe. Meine Kritik ist aber auf alle großen Weltreligionen übertragbar. Daher möchte ich an dieser Stelle erneut eine Empfehlung für den Film Female Pleasure aussprechen, denn dieser Film beschäftigt sich mit 5 Frauen und 5 Religionen: Deborah Feldman (Judentum), Leyla Hussein (Islam), Rokudenashiko (Buddhismus), Doris Wagner (Christentum) und Vithika Yadav (Hinduismus). Ihr könnt den Film auf Amazon Prime oder Apple TV streamen.
Ich wurde 1979 im Saarland geboren und weil die meisten Menschen nicht viel über das Saarland wissen, möchte ich an dieser Stelle zur Einordnung erwähnen, dass es ähnlich katholisch ist wie Bayern. Obwohl ich meine Eltern nicht als sonderlich gläubig oder religiös bezeichnen würde, wurde ich getauft, ging zur Kommunion und wurde gefirmt. Denn hätten meine Eltern sich dagegen entschieden, wäre ich ein Outsider gewesen.
Das gleiche gilt für den katholischen Religionsunterricht in der Schule. Ich habe also an vielen Nachmittagen dem Kommunions- und Firmunterricht einer Nonne beigewohnt, besuchte im Rahmen dieser beiden Happenings regelmäßig am Sonntag die „heilige Messe“, bei der ich in der linken Hälfe der Kirche sitzen musste, während meine männlichen Klassenkameraden sich auf der rechten Seite langweilten.
Ich musste im Alter von 9 Jahren diverse Sünden erfinden, die ich in 3 aufeinander folgenden Beichten in einem dunklen, kalten Beichtstuhl kniend aufsagte und die mir von dem Priester hinter dem Gitter daraufhin „vergeben“ wurden. Im Rahmen des Firmunterrichts lernte ich durch besagte Nonne, dass Selbstbefriedigung schmutzig ist – von Sexualität ganz zu schweigen.
Aber macht ja auch Sinn, denn schließlich dreht sich die ganze Story im Kern um eine heilige Jungfrau, die überraschenderweise ein Kind gebärt. Sex mit Josef hätte sie beichten müssen, weil schmutzig.
Mir wurde früh klar, dass der ganze Zirkus sehr stark auf Schuld basiert. Ständige Unterwerfung. Hinknien, aufstehen, hinknien. Scheiße bauen, beichten.
Bereits zum Zeitpunkt meiner Firmung spürte ich eine innere Rebellion, die sich über die Jahre hinweg steigerte und dazu führte, dass ich unmittelbar nach meinem 18. Geburtstag dem Verein den Rücken kehrte. Am Tag meines Kirchenaustritts schloss ich über Plan International eine Patenschaft ab und unterstützte fortan den Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung in Kenia anstelle des Vatikans.
In meinen Zwanzigern sah ich mich dann gegen Ende eines jeden Jahres mit einer zunehmend ungemütlichen Scham konfrontiert, weil die Zeit um Weihnachten herum sich eben doch irgendwie besonders anfühlte. Wie konnte das sein, wo ich diesen ganzen Verein doch so sehr verachtete? Dann las ich mein erstes Buch über die Rauhnächte und plötzlich machte alles Sinn. Ich beschäftigte mich mit der Zeit vor der Christianisierung, mit den Kelten, dem Jahreskreis und tauchte Jahr für Jahr tiefer in unsere ureigene europäische Spiritualität ein.
Ich lernte, dass im Rahmen der Christianisierung christliche Feiertage über die bis dato existierenden „Feiertage“ gestülpt wurden. Dadurch hat heute kaum noch jemand die Wintersonnenwende auf dem Schirm, während wir im großen Stil Gänse schlachten, Bäume fällen und unendlich viel Zeug kaufen. Diese Erkenntnisse sind jetzt 15-20 Jahre alt. Es war ein Prozess, daher kann ich es keiner konkreten Jahreszahl zuordnen, aber dass mir auch im Jahr 2022 noch in jedem zweiten Instagram Post erklärt wird, dass die Rauhnächte am „heiligen Abend“ beginnen, lässt mich schier verzweifeln.
Diese Symbiose aus kapitalistischer Magie, wie sie uns auf Instagram und TikTok begegnet, und kirchlichen Feiertagen ist zutiefst grotesk. Wollen wir uns nochmal eben vor Augen führen, dass es keine 250 Jahre her ist, dass die letzte Hexe in Deutschland zu Tode verurteilt wurde?
Hexen wurden hingerichtet für das, was in den sozialen Medien seit Jahren zur Weihnachtszeit trendet: Räuchern, Feuerrituale, Kartenlegen, you name it.
Und ja, auch für Deine kleinen, süßen magischen 13 Wünsche im Glas hättest Du auf dem Scheiterhaufen landen können, Laura. Glaubst Du nicht? Dann google doch mal „Inquisition“. Wie ist es möglich, dass wir im Jahr 2022 nach Indien zum Guru jetten oder den Schamanen in Peru zum Ayahuasca Urlaub besuchen, während „Hexe“ hierzulande nach wie vor als Schimpfwort etabliert ist? Könnte es sein, dass wir da kollektiv noch ein bisschen was aufzuarbeiten haben?
Nach meinem letzten Instagram Post zu eben dieser Thematik erreichten mich zahlreiche empörte Nachrichten und Kommentare von gläubigen Christ*innen. Da ging es viel um „Leben und leben lassen“ und „Jeder wie er mag“ (selbstredend nicht gegendert). Und ich würde lügen, wenn ich an dieser Stelle cool tun und behaupten würde, dass diese Reaktionen mich nicht wütend machen. Denn was ist mit „Leben und leben lassen“, wenn gleichgeschlechtliche Paare sich lieben? Wenn Frauen, weil sie sich sexuell „versündigen“ verhüten wollen?
„Leben und leben lassen“ ist ein brutaler Schlag in die Fresse aller Menschen mit Uterus, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen wollen oder müssen. Ein Schlag in die Fresse jedes einzelnen Missbrauchsopfers, das die Kirche zu vertuschen versucht. Zölibat am Arsch. Die großen Skandale der Kirche sind ja kein Geheimnis und hinlänglich bekannt. Daher kann und werde ich hier und heute nicht auf jeden einzelnen Missstand eingehen. Das würde in Anbetracht der Anzahl an Missständen den Rahmen sprengen.
Aber das System Kirche ist nicht nur zutiefst doppelmoralig, patriarchal und hierarchisch. Es ist auch stinkreich.
„Der Sozialwissenschaftler Carsten Frerk untersuchte 2001 das Vermögen der römisch-katholischen Kirche in Deutschland. Nach seinen Berechnungen summierten sich Ende 2002 die Werte von Grundbesitz, Immobilien, Geldanlagen und Beteiligungen der katholischen Kirche und der zu ihr gehörenden Institutionen auf ein Vermögen von 270 Milliarden Euro. […] Haupteinnahmequellen der Kirche seien die Kirchensteuer, Vermögenserträge und Staatsleistungen.“ (Quelle: Wikipedia)
Natürlich können wir uns auch weiterhin fest die Augen und die Ohren zuhalten und „Leben und leben lassen“ in die Kommentare unter kritische Posts tippen. Wir können uns aber auch mal damit auseinander setzen, was und wen wir mit unserer Kirchensteuer finanzieren, welches System wir mit dieser „Jeder wie er mag“ Mentalität am Leben erhalten und uns eingestehen, dass das alles mit Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit nicht wirklich viel zu tun hat.
Und ich weiss, dass jetzt viele wieder mit Jesus, kleinen abgesplitterten Freikirchen und ihrem Glauben kommen werden, der ja ganz anders ist als alles, was ich in diesem Artikel beschrieben habe. Aber Leute, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass euer Jesus gewollt hätte, dass Kinder von Priestern sexuell missbraucht werden, dass Frauen Menschen zweiter Klasse sind und dass zwei Menschen, die sich lieben, sich nicht lieben dürfen, nur weil sie zufällig beide zwei X Chromosomen mitbringen. Wie wäre es zur Abwechslung mal mit „Sei einfach kein Arschloch“? Und zwar so ganz losgelöst davon, welcher der großen Weltreligionen man angehört?
Wie viele Kriege und Konflikte könnten wir auf einen Schlag auslöschen, wenn wir dieses Religionsding einfach canceln?
Wünscht mir also bitte nicht „Frohe Weihnachten“, denn ich werde dieses Fest auch 2022 nicht feiern. Vielleicht konnte ich ja ein paar Menschen dazu inspirieren, in diesem Jahr Female Pleasure zu schauen anstatt einen toten Baum zu schmücken. Und wer es genauso absurd findet, zu feiern, dass eine Frau ohne Sex zu haben ein Kind geboren hat, kann stattdessen mal hier vorbeischauen. Lasst uns doch einfach Mädchen weltweit stärken und dem Patriarchat nicht länger den Arsch pudern.