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Räuchern mit Salbei & Palo Santo – Wo fängt kulturelle Aneignung an?

Wenn wir uns nun hier schon einen ganzen Monat lang mit dem Räuchern beschäftigen, kommen wir nicht umhin, uns auch mit dem Thema „kulturelle Aneignung“ auseinander zu setzen. Denn „Cultural Appropriation“ ist leider auch in der Spiri Szene ein viel zu allgegenwärtiges Thema. Bei kultureller Aneignung denken die meisten von uns vermutlich nicht zuerst an […]

Räuchern mit Salbei und Palo Santo

Wenn wir uns nun hier schon einen ganzen Monat lang mit dem Räuchern beschäftigen, kommen wir nicht umhin, uns auch mit dem Thema „kulturelle Aneignung“ auseinander zu setzen. Denn „Cultural Appropriation“ ist leider auch in der Spiri Szene ein viel zu allgegenwärtiges Thema.

Bei kultureller Aneignung denken die meisten von uns vermutlich nicht zuerst an Räuchern mit Salbei oder Räuchern mit Palo Santo, sondern viel mehr an die Diskussionen über indigene Kostüme zum Kinderkarneval oder an Frisuren, die Kim Kardashian von Schwarzen Menschen übernommen und dadurch irgendwie „hip“ für den Mainstream gemacht hat.

Schauen wir aber mal etwas genauer hin, werden wir feststellen, dass in fast jedem Yogastudio, bei jedem Women Circle und auf jedem hippen Spiri Festival weißer Salbei oder Palo Santo am Start sind. Und auch auf Instagram darf der Smudge Stick aus Nordamerika – hübsch arrangiert und inszeniert – in keinem Spiri Feed fehlen.

Wer „Räuchern mit Salbei“ googelt, wird früher oder später immer bei dem Begriff „indianischer Räuchersalbei“ landen. Ähnlich verhält es sich mit Palo Santo. Alles „indianisches Räucherwerk“ – was mich persönlich im Jahr 2020 irgendwie innerlich zusammenzucken lässt. Aber warum bedienen wir uns eigentlich so selbstverständlich dieser Elemente aus fremden, indigenen Kulturen?

Der weiße Europäer – die Krone der Schöpfung?

Der weiße Europäer hielt sich ja irgendwie schon immer für die Krone der Schöpfung und hat sich aus diesem Grund einfach immer genommen, was er haben wollte. (Ich benutze an dieser Stelle ganz bewusst die männliche Form, weil die Kolonialisierung ja eine sehr patriarchale Angelegenheit war (und auch bis heute ist).

Dass in den USA, Australien oder Neuseeland heutzutage überwiegend Menschen leben, die man eher in Mitteleuropa verorten würde, wäre nicht möglich ohne die Vertreibung, Unterwerfung und Ermordung der indigenen Bevölkerung, die dort ursprünglich mal ansässig war.

Und so wie Kolumbus sich damals einen ganzen Kontinent einverleibt hat, konsumieren wir heute als Spiri Touristen Ayahuasca in Südamerika, bewerfen uns mit buntem Farbpulver auf Holi Festivals in Gelsenkirchen oder Regensburg und räuchern unsere Wohnung zum Neumond mit „indianischem Räucherwerk“.

Dieses kolonialistische Verhalten ist nach wie vor allgegenwärtig und lässt sich 2020 ganz gut an dem Unmut der „Ureinwohner“ Hawaiis bezüglich des Baus eines Teleskops auf dem Mauna Kea aka ihrem heiligsten Berg, ablesen. Oder daran, dass Trump für die Mauer zwischen den USA und Mexiko eine Schneise über den Monument Hill, einen für die indigene Bevölkerung Arizonas heiligen Berg schlagen lässt. Aber wie können wir diese Unterdrückung indigener Bevölkerungsgruppen stur ausblenden und uns gleichzeitig an ihrer Spiritualität bedienen?

Haben wir keine eigene Spiritualität?

Diese Frage drängt sich ja ganz automatisch auf, wenn wir uns mal anschauen, wie viele von uns sich in „fremde“ Kulturen flüchten und diese auch adaptieren. Vom exotischen Kundalini Turban über die Nutzung von Aqua de Florida bis hin zu Tattoos hinduistischer Gottheiten ist da ja alles mit dabei.

Die Antwort auf diese Frage ist gleichermaßen simpel wie unangenehm. Denn natürlich haben auch wir hier in Europa spirituelle Wurzeln. Die wurden im Rahmen der Hexenverbrennungen allerdings sehr radikal gekappt. Damals hat die Kirche nämlich annähernd alle Menschen plattgemacht, die sich mit unseren heimischen Pflanzen, Kräutern und Bäumen auskannten und die noch wussten, was der Jahreskreis ist. Die Tatsache, dass sich bis heute kaum jemand mit unserer eigenen indigenen Spiritualität auseinandersetzt und dass die meisten sich lieber in Indien, Süd- oder Nordamerika bedienen, lässt allerdings vermuten, wie tief der Traumastachel wirklich sitzt.

Schaut euch nur mal die Definition von Hexe auf Wikipedia an: „Als Hexe wird in Märchen und im spätmittelalterlichen Volksglauben eine mit Zauberkräften ausgestattete Frau bezeichnet, die Schadenzauber ausüben kann und eine Verbindung in Form eines Paktes oder einer Buhlschaft mit Dämonen oder dem Teufel hat […]. Der Begriff wird auch als abwertende Bezeichnung bzw. Schimpfwort für eine bösartige, zänkische, unangenehme oder hässliche weibliche Person genutzt.“

Noch Fragen? Ich möchte wetten, dass nicht wenige von uns den Begriff „Hexe“ genau so wie Wikipedia konotieren, während sie gleichzeitig einen Langstreckenflug Richtung Amazonas buchen, um den dort ansässigen Schamanen zu konsultieren. Merkt ihr selbst, oder?

3 Fragen, die wir uns 2020 stellen dürfen:

  1. Muss ich in meiner Berliner Altbauwohnung wirklich heiliges Holz aus Südamerika abfackeln oder tut es auch der heimische Beifuß? Und reinigt letzterer vielleicht nicht sogar noch viel stärker, weil er Teil unserer indigenen europäischen Spiritualität ist?
  2. Wie authentisch ist es, fremde spirituelle Praktiken zu adaptieren und die eigenen spirituellen Wurzeln gänzlich zu negieren?
  3. Wie nachhaltig kann importiertes Räucherwerk, von dem ja alle Händler*innen ausnahmslos behaupten, dass die eigenen Bezugsquelle sauber sind, unterm Strich wirklich sein?

Ziel des heutigen Artikels ist es keineswegs, urteilend mit dem Zeigefinger zu wedeln. Auch ich habe vor ein paar Jahren noch ganz selbstverständlich im Team „Räuchern mit Salbei & Palo Santo“ gespielt, ohne mir über die Herkunft und die Bedeutung dessen Gedanken zu machen. Mittlerweile setze ich mich allerdings sehr kritisch mit dem Thema auseinander und es war mir ein Herzensanliegen, euch an diesen Gedanken heute einfach mal teilhaben zu lassen.

Ich möchte euch an dieser Stelle auch unbedingt noch Un(Well) auf Netflix ans Herz pressen. Die Ayahuasca Folge unterstreicht nämlich nochmal sehr schön, worum es mir hier im Kern geht.

Denn Räuchern ist (zumindest in meiner Welt) ein heiliges Ritual und es wäre doch schön, wenn dieses Ritual nicht auf Unterdrückung und Ausbeutung anderer Menschen basiert.